Produktion des RBB/WDR 2007 / Ursendung: 19.12.2007, 22:00 / rbb kulturradio + mdr Figaro
Regie und Redaktion: Renate Jurzik. Mit Simon Nephawe, Alan Kirkaldy, Gerd Decke, Wolfgang Spittler, Irmtraut Rogall, Felix von Manteuffel, Martin Engler, Thomas Vogt, Thomas Holländer, Ilka Teichmüller
Gefördert durch das Hans-Nerth-Stipendium von rbb und ORF
Schlesien, 1864. Ein Bauernjunge setzt sich in den Kopf, Missionar zu werden. Die Eltern lachen ihn aus, doch der Junge ist hartnäckig: nach dem Besuch des Seminars der Berliner Missionsgesellschaft landet er in Südafrika. Dort heiratet er und hat mit seiner Frau, einer deutschen Kaufmannstochter, fünf Kinder. Er arbeitet wie ein Besessener und vernachlässigt die Familie; seine Frau wird geisteskrank. Er reist mit der Familie nach Deutschland, liefert die Ehefrau in einer Nervenheilanstalt und die Kinder bei verschiedenen Pflegeeltern ab, fährt nach einem halben Jahr zurück nach Afrika: wo er den Rest seines Lebens verbringt. Seine Familie wird er nie wiedersehen.
Welcher Wahnsinn, welche Besessenheit treibt diesen Mann?
Makhado, Republik Südafrika, 2007. Ein paar hundert Meter von der alten, verfallenen Missionsstation meines Urgroßvaters besuche ich seltsame Wellblechkirche. Im vierstündigen Gottesdienst fallen andauernd spirituelle Medien in Trance. Eine der besessenen Frauen schreit mich mit unnatürlicher Stimme an. Es ist der Ahnengeist meines Urgroßvaters, der zu mir spricht, erklärt mir Reverend Simon Nephawe. Der Pastor begleitet mich auf der Suche nach dem Geist des Missionars.
Simon nimmt Autor und Hörer mit in eine fremde, seltsame Welt. Wenn südafrikanische Gläubige sich – wie in vielen der über 4000 südafrikanischen Konfessionen üblich - mit Schaum vorm Mund und vom Heiligen Geist besessen im Staub des Kirchenbodens wälzen, fragt man sich – war es das, was Missionare wie mein Urgroßvater erreichen wollten? Das ist also aus der „Saat“ gewachsen, die der deutsche Missionar vor einem Jahrhundert „ausgestreut“ hat? Vielleicht hat Christentum in Südafrika eine vollkommen andere Bedeutung als in Europa, eine andere Bedeutung vor allem, als die Gedankenwelt von Missionaren wie Gottschling offenbar erfassen konnte.
Das Projekt der Mission, das die Seelen der „Heiden“ manipulieren wollte, ohne die „Heiden“ eigentlich zu kennen, hatte etwas Wahnhaftes. Und vielleicht haben meine Urgroßmutter und mein Urgroßvater in ihrer je eigenen Form des Irrseins auf eine irre Situation reagiert. Gottschlings Familiendrama, die Geschichte eines Mannes, der für eine abstrakte Idee die Realität aus den Augen verliert, steht als Sinnbild da für eine wahnhafte koloniale und postkoloniale Ignoranz.