600 Briefe von meinem Vermieter

Dokumentarisches Hörspiel, ca. 25 Min.
SWR 2 Dschungel (Ursendung: 20.2.2006)
Regie: Ulrich Lampen
Sprecher: Martin Ruthenberg, Veronica Spindler, Eva Irion,
Matthias Brüggemann

HÖREN
Mein Vermieter schreibt mir Briefe. Seitdem ich in meiner Wohnung lebe, seit zwölf Jahren. Jede Woche einen, manchmal zwei – insgesamt über 600. Es sind böse Briefe, eigentlich. Sie enden alle mit der fristlosen Kündigung. Wie in einer Litanei listet mein Vermieter in jedem dieser Briefe alle meine Vergehen auf. Ich würde zu laut musizieren, das Treppenhaus nicht fegen, den Lack des Gartenzauns beschädigen, wenn ich mein Fahrrad anschließe. Er schreibt in immer gleichen Formulierungen, mit nuancenhaften Abwandlungen von Brief zu Brief, in teilweise abenteuerlicher Grammatik. Die Briefe sind mit einer mechanischen Schreibmaschine geschrieben und immer per Post geschickt, obwohl er in der Wohnung unter mir lebt. Die ersten Briefe kamen sogar per Einschreiben.

Seine Vorwürfe sind nicht wirklich berechtigt; ich verhalte mich nicht schlimmer als der Durchschnittsmieter. Ich bemühe mich, nicht abends oder in der Mittagszeit Gitarre zu spielen, und die Treppe putze ich auch regelmäßig. Zwei Prozesse, die mein Vermieter gegen mich angestrengt hat, hat er verloren. Deswegen berührt mich das alles nicht mehr so. Die Briefe öffne ich meist gar nicht mehr.

Trotz der Briefe haben mein Vermieter und ich gar kein schlechtes Verhältnis. Von Zeit zu Zeit lade ich ihn zum Kaffeetrinken in meine Wohnung; er hat nie nein gesagt. Dann plaudern wir ein wenig. Ich erzähle von meiner Arbeit, er von seiner Reise nach China. Über seine Briefe reden wir kaum.

Natürlich ist dies eine traurige Geschichte. Mein Vermieter ist ein einsamer, sogar kommunikationsgestörter Mann. In den 12 Jahren, die ich in dem Haus wohne, habe ich nicht ein einziges Mal bemerkt, dass er Besuch empfangen hätte. Und so erscheinen die Briefe in einem anderen Licht: als ein hilfloser, in Klauseln und Formalien versteckter Versuch, überhaupt Kommunikation herzustellen.
600 Briefe: eine endlose, wurmartige Symphonie, eine Passacaglia, die Motive über Jahre subtil variiert, fallen lässt, neue entwickelt. Eine Art sprachliche minimal music, die die eigenartige Poesie einer gequälten Amtssprache entdecken macht und nebenbei viel von Deutschland erzählt.

[Hörprobe]